Letzte Woche wurde ich ständig von deutschen, aber auch
brasilianischen, Freunden gefragt: „Hast du schon die Spiegel-Titelstory
gelesen?“ Meist schließt sich dem dann die ängstliche Frage „Wie wird diese WM:
Gewalt oder Party?“ an. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen auf diese
Frage zu antworten: ja, ich habe die Reportagen gelesen, es wird wohl mehr
Party, als Gewalt geben, aber es gibt auch Probleme.
Zunächst zu der Spiegel-Titelstory: Das Titelblatt mit
dem brennenden Ball über Rio ist natürlich schon sensationalistisch. Aber was
sollte das Magazin auch anderes machen? So funktioniert halt Journalismus. Im
Heft finden sich dann drei Artikel: einer über die politische Lage Brasiliens,
einer über die Vorbereitungen auf Demos und ein Interview mit dem
Schriftsteller Luiz Ruffato.
Das Interview mit Ruffato mit dem Titel „Wir waren immer
gewalttätig“ hat mir am besten gefallen. Er zeigt sich sehr auto-reflexiv und
verfällt nicht in den Stammtisch-Allgemeinplatz „Alle Politiker sind korrupt“,
sondern bezieht Brasiliens Bürger in seine Überlegungen mit ein. Das zentrale
Zitat dazu ist:
Wir Brasilianer sind alle korrupt. Ich selbst bin es,
jeder hier ist es. Die soziale Struktur führt dazu, und es macht keinen
Unterschied, ob es um einen Real geht oder 100 Millionen. Wir betrügen bei der
Steuererklärung oder wenn wir einen Strafzettel bekommen. Korruption ist
akzeptiert, viele Menschen glauben sogar, es sei gar keine Korruption, wenn man
den Staat beklaut. Weil uns der Staat ja auch beklaut. Gibt es in der Regierung
von Dilma Rousseff Korruption? Sicher gibt es die, wie es sie auch unter Präsident
Lula gab oder während der Militärdiktatur. Unser gesamtes politisches System
ist faul. Und das Schlimmste ist: Wir Bürger leisten keinen Beitrag, um das zu
ändern.
Korruption ist das allgegenwärtige Thema in politischen Alltagsgesprächen.
Brasilianer lieben es über Korruption zu sprechen. Selten hört man dabei ein „Ich
habe es verpasst etwas dagegen zu tun“. Viel öfter hört man: „Ich werde doch
denen da in Brasilia nichts geben“. Somit sind angeblich die Politiker nicht
nur an der allgemeinen Situation des Landes, sondern auch im Speziellen an der
fehlenden Organsation der WM, schuld. Diese Annahme rechtfertigt zu den Massendemos
des letzten Jahres und sogar zu dem Wunsch, dass Brasilien verlieren sollte,
denn ein Sieg würde die aktuelle Regierung stützen.
Und damit sind wir bei dem ersten Artikel mit dem Titel „Eigentor
Brasilien“, der sich mit der politischen Situation des Landes beschäftigt. Insgesamt
zeichnet der Artikel ein ganz gutes Bild der aktuellen politischen Situation
Brasiliens, die als krisenhaft bezeichnet werden kann. Das größte Problem ist
dabei sicherlich, dass das Wirtschaftswachstum ins Stocken geraten ist. Zu
Zeiten der WM-Vergabe, also 2007, befand sich das Land in einem
Euphoriezustand: WM-Zuschlag, Wirtschaftswachstum und mit Lula eine ganz außergewöhnliche
Figur im Präsidentenamt.
FIFA, CBF, WM-OK und Regierung haben damals die
Erwartungen geschürt und das Bild eines reichen, modernen Brasiliens mit
sinkender sozialer Ungleichheit gezeichnet. Das war übertrieben und jeder hat
es gewusst, aber man wollte es nur all zu gerne glauben. Eine WM verändert kein
Land. Das war noch nie so. Heute zeigt sich, dass FIFA, CBF, WM-OK und
Regierung mit dem Aufbau dieser Erwartungshaltung einen strategischen Fehler
begangen haben.
Denn diese überzogene Erwartungshaltung lenkt von den
Fortschritten, die in den letzten Jahren gelungen sind ab: Sozialhilfe „Bolsa
Familia“, Unterstützung beim sozialen Wohnungsbau „Minha Casa minha Vida“ und ein
Anstieg des Mindestlohnes von $100 auf $350 in 10 Jahren. Diese positiven
Entwicklungen kommen in dem Artikel zu kurz.
Und hier wird Korruption zum großen Thema, denn in der
Regierung Lula wurde ein großer Skandal aufgedeckt, der in den letzten Jahren
im sogenannten „Mensalão Prozess“ behandelt wurde. Die Sitzungen wurden live im
Fernsehen gezeigt und viele Angeklagte (aus Lulas Regierung) zu hohen Geld- und
Haftstrafen verurteilt. Ist das nicht eine entscheidende Änderung?
In Dilmas erstem Regierungsjahr wurden sechs Minister
wegen Korruptionsverdacht entlassen. Dilma hat mit eiserner Hand
durchgegriffen. Mir scheint es, dass sie getan hat, was sie konnte. Schließlich
zitiert der Artikel die aktuelle Affäre im staatlichen Ölkonzern Petrobras.
Ganz ehrlich: ein Präsident kann nicht alle Mitarbeiter in Regierung, Parlament
und staatlichen Betrieben überwachen. Ich finde hier wird zu viel verlangt.
Fakt ist, dass im Moment eine komische Stimmung im Land
herrscht. Die Brasilianer würden gerne ihre Nationalmannschaft anfeuern, fühlen
aber, dass sie damit die politische Elite stärken würden, was sie verhindern
wollen. Präsidentin Dilma hat einen Fünf-Punkte-Plan, als Reaktion auf die
Demos 2013, vorgelegt. Bei vier Punkten wurden konkrete Maßnahmen ergriffen,
nur der fünfte Punkt im Bezug auf die Reform des politischen System, scheint im
Sand zu verlaufen. Und das ist nicht die Schuld Dilmas, denn in diesem Punkt
kann sie vom Parlament überstimmt werden. Aber die Maßnahmen sind im Alltag
nicht sichtbar und so fühlen sich die Brasilianer, als ob die Demos zu nichts
geführt hätten.
Ich finde, dass der Artikel insgesamt zu negativ ist,
aber er gibt die aktuelle Stimmung in Brasilien wieder. Die Leute sind sehr
skeptisch in Bezug auf WM-Organisation, Politik, Korruptionsbekämpfung und dem Traum
eines modernen Landes. Diese Stimmung hat natürlich durchaus Konfliktpotential
und dem widmet sich der letzte Artikel mit dem Titel „Jagd auf die weißen
Elefanten“.
Der Artikel stellt zwei (oder drei) Akteure der Demonstrationen
2013 gegenüber: zum einen Vertreter der Black Blocs und der sozialen
Bürgerbewegung und zum anderen die Spezialeinheit der Polizei BOPE. Damit
werden hier zwei radikale Gruppen gegenübergestellt, die keineswegs den
Großteil der brasilianischen Gesellschaft repräsentieren, sondern meist
ablehnend wahrgenommen werden. Somit übertreibt der Artikel.
Die BOPE ist eine Spezialeinheit in der Militärpolizei,
die für den Einsatz bei Protesten zuständig ist. Sie sind bekannt für ihre
brutale Vorgehensweise, was schon in dem Film „Tropa de Elite“ dargestellt
wurde. Die Black Blocs sind ein kleiner vermummter Teil der Demonstrationen,
deren Mitglieder in intellektuellen Ansprachen im Internet Gewalt verherrlichen.
Hier ist den Autoren, meines Erachtens, ein Recherchefehler unterlaufen, denn
die Black Blocs stammen nicht mehrheitlich aus der Unterschicht, sondern aus der
Mittelschicht in Rios Südzone.
Schließlich werden die Anliegen der sozialen Bewegungen,
der Comitees Populares, dargestellt. Deren Anliegen sind absolut
unterstützenswert, denn sie verteidigen, zum Beispiel Personen, die von
Zwangsumsiedlungen betroffen sind. Leider erfahren sie viel zu wenig Unterstützung
in der breiten Gesellschaft. Somit sind auch sie keineswegs repräsentativ.
Somit muss man sich fragen, was der Artikel genau
aussagen will? Während der WM wird es Mord und Totschlag geben und wir müssen
um die Sicherheit unserer deutschen Fans und Spieler fürchten? Das sind doch
genau die Ängste, die im Moment in der Presse geschürt werden und die einfach
übertrieben sind.
Gibt es Konfliktpotential? Ja, das gibt es. Wenn es denn
Demonstranten, wie im Text angekündigt, gelingen würde, den Tunnel nach São
Conrado, zu sperren, würde das zu großer Aufmerksamkeit und brutalen
Auseinandersetzungen führen? Ja, das würde es. So, wie, im Übrigen, in jedem
anderen Land der Welt auch.
Aber: wir sprechen hier von kleinen, radikalen Gruppen,
die inzwischen von der Polizei kontrolliert werden. Strategisch ist es dumm,
solche Pläne zu veröffentlichen, denn auch die brasilianische Polizei liest den
Spiegel. Der Großteil der Bevölkerung hat vor der Gewalt Angst und wird den
Demos fernbleiben. Die Brasilianer sind sehr auf Gastfreundschaft bedacht und
werden (außer bei Überfällen, wie es sie immer gab) Touristen gut behandeln.
Brasilianer sind sehr kritisch, aber auch sehr stolz auf ihr Land und werden es
nicht schlecht darstellen wollen.
Schließlich werden die Brasilianer natürlich ihre
Nationalmannschaft frenetisch unterstützen. Es wird zwischen dem Sport- und dem
Organisationsereignis getrennt, wie hier beschrieben: http://www.imlanddesfussballs.blogspot.com.br/2014/05/stimmungsbarometer-noch-40-tage.html
. Die Fanartikel der WM verkaufen sich sehr gut und werden inzwischen an jeder
Ecke angeboten. Von der Seleção wird nichts anderes als der Titel erwartet. Man
kann also getrost nach Brasilien kommen und, unter Beachtung der üblichen
Sicherheitsregeln, eine WM feiern.
Ich denke, man muss die drei Artikel untereinander in
Bezug setzen: natürlich gibt es radikale Gruppen und Konfliktpotenzial, aber es
gibt auch andere Seiten und inklusive sehr reflektierte Sichtweisen. Somit fand
ich die Grundstimmung zu pessimistisch. Die Demonstrationsbewegung von 2013
kann, und muss, positiv gesehen werden. Sie ist ein absolutes Novum in der
WM-Geschichte und hat sehr positive Reflektionsprozesse in Brasilien und, ich
denke auch, in anderen Ländern angestoßen.
„Welche Rolle hat die FIFA?“, „Was für eine Polizei
wollen wir?“, „Wie kann man erfolgreich Korruption bekämpfen?“, „Was für ein
Land wollen wir?“. All diese Fragen wurden mit Vehemenz in die Öffentlichkeit
getragen und werden weiterhin diskutiert. Brasilien hat sich als sichere und
selbstbewusste Demokratie gezeigt und kann so auch für andere Länder als
Vorbild dienen.