Donnerstag, 31. Januar 2013

Grêmio – LDU, 1:0 (5:4, nE) / Fluminense – Friburguense, 2:2


Eigentlich wollte ich mit meinem Freund Lugui das Spiel Fluminense – Friburguense in einer Kneipe im Stadtteil Tijuca anschauen. Aber zeitgleich stürzte die Brüstung des nagelneuen Stadions von Grêmio in Porto Alegre bei der Qualifikation zum Libertadores Pokal ein. 10 Fans verletzten sich dabei. Somit wurde dieser Zwischenfall zum Ereignis des Tages.
Aber der Reihe nach. Der Varnhagen-Platz in der Tijuca ist voller Kneipen, von denen mehrere auf großen Bildschirmen Fußballspiele zeigen, um Publikum anzulocken. Ich treffe mich mit Lugui und wir beschließen uns in der rappelvollen „Bar do Bom“ niederzulassen. In ihr sind insgesamt vier Fernseher angebracht, die jedoch so über den Tischen hängen, dass es schwer ist auf sie zu schauen. Ich sehe mich um und bemerke, dass es sich nicht um ein Fußballpublikum handelt. An der Wand links von mir befinden sich vier Tischgruppen nebeneinander, an denen nur Mädchen sitzen. Sie ignorieren das Geschehen auf den Bildschirmen komplett.  


Während die Kneipen am Varnhagen-Platz bestens besucht sind, sieht man auf den Bildschirmen die leeren Ränge des Engenhão-Stadion. 2.800 Fans wollten das Spiel sehen. Die Diskussion um die Entwertung der Staatsmeisterschaften ist deswegen weiter in vollem Gange. Juca Kfouri schreibt in seiner Kolumne, dass der Regionalpokal der Nordostregion im Schnitt 7.000 Fans anlockt, während die São Paulo-Meisterschaft nur ein Mittel von 5.000 Zuschauern vorweisen kann. In Rio de Janeiro schreibt Sergio du Bocage, dass das Derby Paysandu (3. Liga) – Remo (4. Liga) in der Stadt Belém in der Amazonasregion von 41.000 Fans gesehen wurde, während beim Derby Fluminense (Brasilianischer Meister) – Botafogo (1. Liga) nur 11.000 Zuschauer anwesend waren.


Ich bemerke rechts von mir einen Fluminense-Fan, aber selbst er bittet bei Anpfiff um die Rechnung. Lugui und ich beschließen die lokale Spezialität „Kroketten“ zu probieren. Kroketten werden in Brasilien aus Fleisch gemacht und als deutsche Spezialität angesehen. Die „Bar do Bom“ macht diese Kroketten in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Ich entdecke die Version aus „Wasserschwein“ (Das größte Nagetier der Welt. Sicherlich exotisch.) und Lugui bestellt Rind mit Käse. Die Kroketen sind außen krokant und haben innen eine feingemahlene Fleischpaste. Der Geschmack begeistert mich nicht, besonders weil nicht klar ist, was die da in den Fleischwolf geworfen haben. Die Fleischpaste erinnert eher an Babynahrung.

                                                                         Das Bier gibt’s im Eimer.


Zur Halbzeit steht es 0:0 bei Fluminense und bei Grêmio. Außerdem spielt auch noch São Paulo um den Einzug in den Libertadores Pokal, hat aber das Hinspiel 5:0 gewonnen und konnte sich so eine 3:4 Niederlage in La Paz gegen Bolivar leisten. Hier war die Spannung draußen. Lugui und ich beschließen die Bar zu wechseln. Wir gehen gleich nebenan in die Buxixo Kneipe. Auch sie hat mehrere Fernseher an der Wand befestigt, die heute ignoriert werden. Ich bestelle eine kräftige Bohnensuppe mit Käsehaube und ein Bier.


In der zweiten Halbzeit beginnt Fluminense sich zu blamieren und Friburguense geht 2:0 in Führung. Plötzlich werden Bilder aus Porto Alegre gezeigt. „Lugui, schau mal, da ist was in Porto Alegre passiert.“. Es werden Verletzte gezeigt, die aus dem Stadion getragen werden. Aber man versteht nicht was wirklich passiert ist. Inzwischen weiß ich, dass die Fans von Grêmio beim 1:0 ihres Vereins die berühmte „Lawine“, also ein gemeinsames Herunterrennen zur Brüstung, gemacht haben. Aber die neue Brüstung hat nicht standgehalten und so sind 10 Fans in den dahinterliegenden Graben gestürzt. Hier Aufzeichnungen:


„Mist“, denke ich mir, „Jetzt beginnt wieder diese unsägliche Sicherheitsdebatte.“ Im neuen Stadion von Grêmio wurden, entgegen dem Trend die Stehplätze, sogar ohne Wellenbrecher, erhalten, um die „Lawine“ zu ermöglichen. Aber scheinbar hat man vergessen die Brüstung resistent genug zu machen. Die Schuld wird jetzt sicherlich wieder den Fans und nicht den Ingenieuren in die Schuhe geschoben. Ganz abgesehen davon, dass nichts passiert wäre, wenn da kein Graben gebaut worden wäre. Leider sind Gräben zwischen Publikum und Rasen in Brasilien Pflicht, da man eine panische Angst vor „Pitch Invasions“ hat.
Man kann nur hoffen, dass Grêmio sich von dieser Diskussion nicht in die Irre führen lässt und die Stehplätze beibehält. Die „Lawine“ ist eine Tradition in Porto Alegre und wurde auch im alten Stadion tausendfach durchgeführt. Dort hat die Brüstung gehalten und nie hat sich jemand verletzt. Die Konsequenz muss also sein, dass die Brüstung verbessert und am Besten der Graben zugeschüttet wird.
Grêmio gewinnt schließlich im Elfmeterschießen und trifft im Libertadores Pokal auf Fluminense. Der brasilianische Meister schafft noch glücklich den 2:2 Ausgleich gegen Friburguense. Hier die Spiele:

Grêmio - LDU:

Fluminense - Friburguense:

Sonntag, 27. Januar 2013

Nova Iguaçu – Duque de Caxias, 3:0



Pünktlich 15.00h gehe ich durch die Schwingtüren der Bar Brasil, die früher einmal Bar Berlin hieß, in der Lapa und treffe meine Mitstreiterinnen Leda und Carol. Wir trinken noch ein Bier und begeben uns dann zu Carols Auto, um in die Stadt Nova Iguaçu zu fahren. Sie liegt in der Peripherie Rio de Janeiros, die Baixada – Flachland -genannt wird. Etwa eine Stunde sind wir auf der Stadtautobahn unterwegs. Durchgehen ziehen Häuser an uns vorbei, so dass man gar nicht merkt wann eine Stadt aufhört und wann die nächste beginnt. Den Ausfahrtsschildern zu Folge passieren wir die Städte Duque de Caxias, São João de Meriti und Belford Roxo, bis endlich die Ausfahrt Nova Iguaçu kommt.
Schon kurz nach der Ausfahrt erleuchtet das ganz in orange gehaltene Stadion des heimischen FC, der heute das Derby der Baixada gegen den Duque de Caxias FC austragen wird. Gleichzeitig wird das auch das Duell der „Roten Laternen“, denn beide Vereine sind Tabellenletzter in ihrer jeweiligen Gruppe.
Das Stadion „Laranjão” macht zunächst einen sehr abweisenden Eindruck. Die durchgehende orangene Mauer wirkt eher wie eine Festung. Am Eingang ist ein Schild befestigt, mit dem Hinweiß „Zugang für bewaffnete Personen verboten“. Hinter dem Stadion öffnen sich jedoch die weiten Trainingsplätze und das eigentliche Vereinsgelände. Der Nova Iguaçu FC ist kein allgemeindienlicher Klub, sondern wurde 1990 von einer Gruppe von Unternehmern gegründet, um Spieler auszubilden und an ihrem Verkauf zu verdienen.


Deswegen findet man hier, weit entfernt von dem Glamour der Copacabana, perfekte Trainingsmöglichkeiten, um eine Profikarriere zu starten. Es gibt ein Spielerinternat, Räume für Ärzte und Physiotherapeuten, Fitnessstudio und ein Schwimmbad. In der Mitte wurde eine kleine Kantine und ein Fanshop errichtet, in dem man das knallorangene Trikot und Havaianas erstehen kann.
Im Gegensatz dazu macht das Stadion einen sehr improvisierten Eindruck. Für Nova Iguaçu FC wäre es am besten, wenn man nur einen Platz bräuchten, von dem aus man die Spiele ins Internet überträgt, um so seine Spieler interessierten Käufern zu präsentieren. Aber der lokale Fußballverband hat mit Zwangsabstieg gedroht und so den Verein dazu gezwungen, ein Stadion zu bauen. Notdürftig wurde eine Heim- und eine Auswärtstribüne errichtet, die insgesamt 3.000 Personen Platz bieten. Der Rest wurde mit Bretterverschlägen versteckt. Die Pressetribüne ist ein Türmchen mit Wellblechdach, ohne Klimaanlage und genau im Winkel der untergehenden Sonne.


Der Verein verdient sein Geld mit dem Spielerverkauf und nicht mit seinen Fans. Trotzdem treffe ich in der Kantine den Fanklub Manguaçu mit seinem Sprecher André. Er erklärt mir: „Ich erwarte heute einen deutlichen Sieg. Wir müssen aus dem Tabellenkeller raus und unsere Mannschaft ist stärker als Duque de Caxias. Wir müssen unsere Heimspiele gegen die kleinen Vereine gewinnen. Gegen die Großen wird es schwer.“ „Hast du noch einen anderen Klub?“, frage ich. „Nein, wir sind hier nur Nova Iguaçu. Und das von Kindesbeinen an. Ein anderer Klub kommt nicht in Frage.“ „Naja“, denke ich mir, „damals war der Verein noch gar nicht gegründet“. Aber lassen wir es so stehen.


Das Spiel wurde von Abwehrfehlern bestimmt. Zur Halbzeit hätte es gut und gerne 4:4 oder 5:5 stehen können. Aber die Stürmer von Duque de Caxias machten nichts aus ihren Chancen und so gingen die Mannschaften mit einem 2:0 für Nova Iguaçu in die Kabinen. In der zweiten Halbzeit flachte das Spiel ab. Nova Iguaçu beschränkte sich aufs Verteidigen und Konter. Bis dann die Nummer 26 eingewechselt wurde und zu unserer Freude noch ein paar Zauberstückchen aufführte. Eines führte zum 3:0 Endstand für die Hausherren.


Andrés Jungs versuchten das ganze Spiel über die wenigen Zuschauer anzufeuern, was nicht wirklich gelang. Zur zweiten Halbzeit kam noch ein zweiter Fanklub „Garra Iguaçuana“ – Die Klauen – auf die Tribüne. Seine Mitglieder sind etwa 15-jährige Jugendliche, die gewartet haben, bis sie umsonst eingelassen wurden. Sie machten etwas mehr Party. Nach Schlusspfiff treten Leda, Carol und ich unter strömendem Regen, die Rückreise an.
Am Sonntagabend erwartet Rio de Janeiro den ersten großen Klassiker des Jahres zwischen Botafogo und Fluminense. Die Vereine haben sich auf eine erneute Eintrittserhöhung geeinigt. Der billigste Platz kostet jetzt 60 Real (etwa 22 Euro)! Das Spiel wird da wohl leider wieder vor leeren Rängen stattfinden.

Donnerstag, 24. Januar 2013

Vasco – Macaé, 4:2



Alle Jahre wieder wird über Sinn und Unsinn der Staatsmeisterschaften diskutiert. Die Verteidiger heben die historische Bedeutung dieser Wettbewerbe hervor. Immerhin wird die São Paulo-Meisterschaft seit 1901 und die Riomeisterschaft seit 1906 ausgetragen. Zum anderen stellen sie die einzige Möglichkeit für kleinere Teams dar, Spielpraxis zu bekommen.
Die Gegner beklagen jedoch den aufgeblähten Spielplan – brasilianische Spitzenteams kommen auf bis zu 80 Spiele pro Saison -, den zweifelhaften sportlichen Wert und die Verzerrung des Sportkalenders im Vergleich zu anderen Ligen Amerikas und Europas. Der renommierte brasilianische Journalist Juca Kfouri, ein erklärter Gegner der Staatsmeiterschaften, führt in seiner Kolumne vom Montag an, dass am letzten Wochenende die Spiele der vier Großen in Rio zusammen auf lediglich 18.000 Zuschauer kamen. Es scheint also, dass sich auch die Fans nicht wirklich für diese Meisterschaft interessieren.
Die vier Großen spielen vorerst mit angezogener Handbremse, um sich zu schonen. Der Meister Fluminense schickte ein B-Team seiner Jugendmannschaft aufs Feld. Die erste Mannschaft soll sich für die viel wichtigere Copa Libertadores schonen. Vasco und Flamengo stecken in der Krise. Sie mussten viele Spieler verkaufen, um ihre Bilanzen einigermaßen ins Gleichgewicht zu bekommen. Die Riomeisterschaft ist für sie also eher ein Test. Nur Botafogo könnte schon mit etwas mehr Elan ins Turnier starten. Eventuell hat das auch Vater Marcelo de Pombagira so analysiert, als er die Vorhersage machte, dass Botafogo die Meisterschaft gewinnen würde.
In Nordostbrasilien behebt man das Dilema der Staatsmeisterschaften, indem ein Nordostpokal gegründet wurde, mit den besten Mannschaften der neun Bundesstaaten der Region. Dort sind die Stadien voll. Irgendwas müssen die also richtig machen.
Auch mein Nachbar und Vasco-Fan Camilo ist noch etwas verkatert von der letzten Saison und will noch nicht ins Stadion gehen. Wir einigten uns also darauf das Spiel bei ihm zu Hause zu verfolgen. Dazu gesellt sich João Marcelo, ebenso Vasco-Fan und los geht die Debatte über den Sinn der Staatsmeisterschaften und andere Probleme des Fussballs.
Camilo: „Martin wollte ins São Januário gehen, um Macaé zu sehen. Stell dir das vor!“
João Marcelo: „Du bist doch verrückt. Das lohnt sich nicht. Die Anfahrt ist zu beschwerlich und dann kommt keine Stimmung auf, weil nur ein paar Hundert Fans da sind. Wenn es wenigstens gegen einen atraktiven Gegner ginge, aber Macaé?“
Macaé ist eine kleine Stadt im nördlichen Bundesstaat Rio de Janeiro. Vor seiner Küste wurden in den letzten Jahren die grössten Ölvorkommen Brasiliens gefunden. Deshalb kam die Stadt zu Geld. Der örtliche Fussballklub wird auch von der Stadtverwaltung gesponsort, also mit öffentlichen Geldern. Der Verein wird also als absolut traditionslos wahrgenommen.
João Marcelo: „Aber nichteinmal Vasco ist derzeit atraktiv.“
Camilo: „Genau. Nachdem die soviele Spieler verkauft haben, kann man nichtmehr von einer Mannschaft und nur noch von einer Ruine sprechen.“
Martin: „Sehe ich das richtig: ihr seid mit dem Präsidenten Roberto Dinamite nicht zufrieden?“
Camilo und João Marcelo: „Nein!“


Martin: „Aber er ist doch als Ex-Spieler und Torschützenkönig ein absolutes Idol? Ausserdem kann er sicher die leeren Kassen nicht verantworten.“ 
Camilo: „Ja natürlich. Aber genau deswegen habe ich mir mehr von ihm versprochen. Er könnte ja mit den Schulden anders umgehen. Aber er stellt seine Familienangehörige im Verein an und verkauft die Mannschaft ohne Plan. Felipe, Fagner und Juninho Pernambucano, das war ein Ausverkauf. Jetzt fehlt nur noch Dedé“
João Marcelo: „Das Präsidium würde sicher liebend gerne Dedé verkaufen. Aber wenn sie das machen, dann provozieren sie einen Aufstand.“
Camilo: „Ja, das wird wohl nicht passieren.“
Für Dedé liegt ein Angebot über 19 Millionen Reais (etwa 8 Mio Euro) von Corinthians vor. Eine absolute Rekordsumme in Brasilien für einen Verteidiger. Aber die beiden sollten recht behalten. Inzwischen wurde die Vertragsverlängerung und Gehaltserhöhung für Dedé vom Verein bestätigt.
Während wir so über Fussball plaudern schiesst Macaé ein Tor. Vasco dreht das Spiel jedoch locker zu einem 3:1 um. In der Schlussphase wird es dann nochmal hektisch: denn auf beiden Seiten gibt es Elfmeter, die zum 4:2 Endstand verwandelt werden.


Mittwoch, 23. Januar 2013

Es ist bequem ein Feigling zu sein


In meinen Gedanken bin ich noch bei dem Spiel von Olaria in der Rua Bariri und so durchstöberte ich die letzten Tage meine Texte von Nelson Rodrigues. Dabei fand ich in dem Sammelband „À sombra das Chuteiras Imortais” (Im Schatten der unsterblichen Fußballschuhe, organisiert von Ruy Castro) folgende Chronik, die in der Manchete Esportiva 1955 erschienen ist. Ihr Schauplatz ist die Rua Bariri:


Vor einiger Zeit war ich in der Rua Bariri, um ein Spiel von Fluminense zu sehen. Ich gebe zu: - ich habe Olaria immer für so weit entfernt, entlegen und utopisch, wie Konstantinopel, Istanbul oder Vigário Geral gehalten. Schon auf der Avenida Brasil begann ich eine Nostalgie und ein Exil zu spüren, die sich nur mit denen von Gonçalves Dias und Casimiro Abreu vergleichen lassen. Das Ende vom Lied: es erwuchs in mir eine Abneigung gegen jede Art von Reisen. Aber ich kam an und habe die Partie gesehen. In den ersten dreißig Minuten konnten wir Alles, wirklich Alles, bewundern, außer Fußball. Es war eine Schande, ein alberner Straßenkick, der die fünf Cruzeiros Eintritt nicht wert war. Und, plötzlich, ereignet sich eine unerwartete Episode, ein magischer Zwischenfall, der dem Match fünfter Kategorie eine neue und elektrisierende Dimension verlieh.
Hier die Fakten: - Irgendein Spieler tritt in das Gesicht eines Gegenspielers. Was macht der Schiedsrichter? Er schmeißt sich, stürzt sich mit dem Elan eines Robin Hood und will dem Schuldigen die letzten Worte sagen. Dieser will aber nichts von einer Unterhaltung wissen: - er ohrfeigt den Schiedsrichter. Schauen sie, ein Schlag ist nicht nur ein Schlag: - er ist in Wirklichkeit der bedeutendste und wichtigste Akt allen menschlichen Handelns. In dem Moment, in dem jemand schlägt oder ins Gesicht geschlagen wird, werden alle Anderen in die gleiche Erniedrigung mit einbezogen, verwickelt, mitgerissen. Wir Alle wurden mit der Ohrfeige verbunden.
Man muss aber noch Folgendes hinzufügen: - der Klang! Denn, tatsächlich, von allen Klängen auf Erden, der einzige der keinerlei Zweifel, Missverständnis oder Trugschluss zulässt ist die Ohrfeige. Ja, Freunde: - eine stille Ohrfeige, eine stumme Ohrfeige würde niemanden beleidigen. Im Gegenteil: - Opfer und Aggressor würden sich in der tiefsten und unaussprechlichsten Herzlichkeit in die Arme fallen. Es ist der fürchterliche Klatsch der sie aufwertet, der sie dramatisiert, der sie unwiderruflich macht.
Nun: - Bei der Ohrfeige in Olaria fehlte das auditive Element nicht. Aber die Episode hat ihr Grauen noch nicht erschöpft. Es fehlte noch der Ausgang: - die Flucht des Mannes. Denn der geschlagene Schiedsrichter kannte keinen anderen Ausweg: - Er nahm die Beine in die Hand. Wir stimmen überein: - eine so eindeutige und triumphale Panik, ohne jegliche Verstellung, ohne jegliche Zurückhaltung, ist spannend. Ich sage „spannend“ und füge zu: - selten oder gar einzig.
Normalerweise ist nur das Heldentum bejahend, unverschämt. Der Held zeigt immer eine einzigartige Unverschämtheit: - Er stellt sich vor, als ob er die eigene Reiterstatue wäre. Aber der Feigling nicht. Die Feigheit klagt eine krampfhafte Schande an. Ich habe einen Freund, der Folgendes macht: - wenn er heim kommt, sperrt er sich in einen Schlupfwinkel ein, verschließt die Schlüssellöcher und erst dann, in dieser rigorosen Intimität, lässt er sich von seiner Frau schlagen. Aber hier draußen, im Tageslicht, ist er ein Tartarin, ein Flash Gordon, der in der Lage ist einem ganzen Polizeibataillon entgegenzutreten.
Nun gut. Im Gegensatz zu anderen Feiglingen, die sich verstecken, die leugnen, die ihre eigene Feigheit entstellen – ist der Schiedsrichter wie ein Karussellpferd gerannt. Es sei angemerkt: Es gibt heute eine monströse Verbreitungstechnologie, die jede Art von Geheimnis undurchführbar macht. Und sofort wurde der Schiedsrichter von der Presse, den Radioreportern umringt. Die fotografierte, ausgestrahlte und übertragene Feigheit projizierte sich unwiderstehlich. Und als dann, im Folgenden, die Polizei dem Schiedsrichter Schutz anbot, rieb dieser noch die Zähne, sabberte er noch den Terror. Als das Match dann vorbei war passierte die Menge in geschmeidiger, langsamer Art Richtung Ausgang. Aber wir alle, die wir nur versteckt feige sein können, fühlten Neid, Abscheu und Ärger über diesen Kleinmut der seine zynische Standarte ausspannte.


Vigário Geral ist ein Stadtteil von Rio de Janeiro. Gonçalves Dias und Casimiro Abreu waren Dichter des brasilianischen Romantismus im 19. Jahrhundert.

Sonntag, 20. Januar 2013

Olaria – Audax, 0:0



In Rios Nordzone gibt es eine der wichtigsten Wallfahrtskirchen Brasiliens: die Igreja da Penha. Sie liegt auf einem kahlen Felsen im Stadtteil Penha und ist der Jungfrau Maria geweiht. Ich wollte schon immer mal die 365 Stufen zur Kirche hinaufgehen und die Aussicht genießen. Da kam mir das Heimspiel von Olaria, im gleichnamigen Viertel in der Nachbarschaft der Penha, gerade recht, um eine Tour durch Rios Norden zu machen.
Als ich am Felsen ankam, stellte ich erfreut fest, dass es inzwischen einen Aufzug gibt, den ich dann dem Fußmarsch vorzog. Die Kirche wurde kürzlich renoviert und erstrahlt in neuem Glanz und die Aussicht ist fantastisch. Man überblickt die Nordzone, die Bucht, den Zuckerhut und den Corcovado. Hinter der Kirche beginnt eine der größten Favelas Rio de Janeiros, der Complexo do Alemão, in dem 2010 die Militärmaßnahmen gegen die Drogenbanden begannen. Heute verkehrt dort ein Lift.
Bis ins 19. Jahrhundert dominierten in dieser Gegend Fazendas, die in erster Linie Zucker produzierten die Landschaft. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts siedelte sich in Penha eine Lederfabrik und in Olaria eine Ziegelei (Port.: Olaria) an. Deshalb wurde daraufhin einer Zuglinie aus dem Zentrum Rios in diese Richtung gebaut und damit begann das Bevölkerungswachstum. 1915 wurde der Olaria AC mit Sportangeboten für Fußball, Tennis, Segeln und – kurios - Pfadfinder gegründet.
Von der Penha-Kirche ist es nur ein kurzer Fußmarsch bis zum Vereinsgelände in der Rua Bariri. Man sieht, dass der Klub stark in der Gemeinde des Stadtteils verwurzelt ist. Außer dem Fußballstadion fällt besonders das Schwimmbad auf. Ich trinke in der Bar noch einen der in der Nordzone beliebten brühend heißen schwarzen Kaffees aus dem Glas und begebe mich auf die Tribüne.


In der Gegengerade erhebt sich die - fast leere - typische Dreieckstribüne Olarias. Die Haupttribüne hingegen ist gut gefüllt, unter anderem auch mit einem kleinen Fanklub: die Torcida Império Olariense. Kurz nach Spielbeginn erscheint auch hinterm Tor ein Fanklub: die Torcida Jovem Olaria. Das Spiel plätschert etwas bedeutungslos vor sich hin. Audax, aus São João de Meriti in der Peripherie Rio de Janeiros, beschränkt sich aufs Verteidigen und Olaria findet kein Konzept gegen den Betonriegel.
Da kommt plötzlich Bewegung auf den Rängen auf. Ein Teil der Torcida Jovem rennt zum Ausgang und ein anderer rennt zum Geländer, um zu sehen, was auf der Straße, vor den Stadiontoren, geschieht. Das ist ein typisches Zeichen für Prügeleien. Kurz danach kommen die Jungs wieder zurück und beginnen Schlachtrufe gegen die Torcida Império anzustimmen. Was ist denn da los? Ein Streit zwischen den Fanklubs des gleichen Vereins? 
 Ich spreche mit Victor von der Torcida Império:
„Wir sind eine Abspaltung der Jovem, deshalb mögen sie uns nicht.“, erklärt er mir.
„Aber, warum habt ihr euch getrennt?“, hacke ich nach.
„Sie sind nur auf Prügeleien aus und das hat uns nicht gefallen.“
„Was war denn jetzt auf der Straße los?“
„Die Torcida von Audax ist eingetroffen und da haben sie eine Prügelei begonnen. Aber die Polizei hat sie schon getrennt und mehrere von ihnen festgenommen.“
Ich bin doch etwas überrascht, dass es so etwas bei so einem kleinen Verein gibt. Am Aushang steht, dass heute 408 Zuschauer anwesend sind. Da muss man schon suchen, wenn man jemanden finden will, der auf Prügeleien aus ist.


„Was hältst du denn von deiner Mannschaft?“, führe ich das Gespräch fort.
„Sie spielen überraschend gut, dafür, dass keine nennenswerte Verstärkung verpflichtet wurde. Audax hat Geld und müsste eigentlich mehr zeigen. Bei uns sind einige Sponsoren abgesprungen. Die Fußballabteilung wird ja jetzt nicht mehr als Verein, sondern als Unternehmen geführt. Ein Portugiese hat das jetzt, mit der Unterstützung von Eurico Miranda, Ex-Präsident von Vasco da Gama, übernommen. Da war die Vorbereitung schlecht. Unter diesen Umständen muss man zufrieden sein.“


Ich gehe zu den Pressekabinen hoch und treffe Fernando, den Präsidenten von Audax und frage ihn zu seiner Meinung über das Spiel.
„Ich bin enttäuscht. Das haben wir so nicht trainiert. Die Mannschaft müsste besser sein. Sie spielt nur hohe, lange Bälle in die Spitze, statt konzentriert ein Spiel aufzubauen.“
„Was sind denn die Saisonerwartungen von Audax?“
„Wir planen uns für die Serie D, die vierte brasilianische Liga, zu qualifizieren. Dazu müssen wir vor den Mannschaften, die schon in der Serie C sind, also Madureira, Duque de Caxias und Macaé, abschließen. Dann würden wir nationale Aufmerksamkeit gewinnen. Das müsste möglich sein.“
Da sind also die Erwartungshaltungen ganz verschieden hoch bei den zwei Klubs. Das Spiel war insgesamt ein sehr fader Saisonauftakt und endete 0:0. Es gab wenig Höhepunkte und insgesamt würde ich sagen, dass Audax sogar die besseren Torchancen hatte, trotz seiner Defensiveinstellung.


Es hat mir gut gefallen bei Olaria. Die Leute sind freundlich und reden mit einem. Man fühlt sich sofort integriert. Es kommt einfach ein Gemeinschaftsgefühl auf. Da muss ich doch meinen Ausflug mit einem kühlen Bier, in einer der legendärsten Kneipen der Region, dem Original do Bras, in Bras de Pina, nur 3 Stationen von Olaria entfernt, ausklingen lassen.
In Rio de Janeiro gibt es einen Wettbewerb der besten Kneipengerichte. Das Original do Bras nimmt daran regelmäßig teil und hat schon Preise gewonnen. Zunächst probiere ich die preisgekrönten panierten Rouladen, die der Wirt „Eine Runde durch die Vororte“ (Um rolé pelo subúrbio) nennt. Absolut fantastisch – Bestnote. Als nächstes bestelle ich einen Klassiker der Botequins (Kneipen): eine Bohnensuppe. Auch mit ihr bin ich sehr zufrieden. Zum Abschluß gibt es noch ein Gericht mit getrocknetem Fleisch, Zwiebeln und kandierten Orangenstücken. Das salzige Fleisch mit den süßen Früchten ist eine gute Idee, aber verglichen mit den ersten beiden Gängen beeindruckt dieses Gericht nicht so sehr.
So geht ein fantastischer Ausflug in Rios Vororte zu Ende. Toll war`s. Ich freue mich schon auf die nächsten Spiele.


PS: Ich habe bemerkt, dass die Teams in der ersten Phase gegen die Klubs der anderen Gruppe spielen und erst in der zweiten gegen die Mannschaften aus der eigenen Gruppe. In dem Post vom Mittwoch habe ich das verdreht. Sorry!

Freitag, 18. Januar 2013

Botafogo wird Riomeister!


In meinem letzten Post habe ich geschrieben, dass Botafogo den Ruf hat ein sehr abergläubischer Verein zu sein. Gestern hat mir dann ein Freund, der Botafogo-Fan ist, ein Video zugeschickt, dass einen “Heiligenvater” zeigt, der das Kaurischnecken-Orakel befragt, um Botafogos Zukunft zu erfahren.
Die “Heiligenväter” sind die Geistlichen der afro-brasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda, die sich weiterhin grosser Beliebtheit erfreuen. Eine der Aufgaben eines “Heiligenvaters” ist es die kleinen Kaurischnecken in einen Korb zu werfen und aus der Position, in der sie fallen, die Zukunft vorherzusagen.
In dem Video sieht man gleich in der ersten Szene die Kaurischnecken fallen. Danach erklärt uns Vater Marcelo de Pombagira, dass Botafogo sicher die Riomeisterschaft gewinnen wird. Die Brasilianische Meisterschaft wird Botafogo jedoch nicht gewinnen, aber immerhin um den Einzug in die Copa Libertadores kämpfen. Ob er wohl recht behalten wird?


Mittwoch, 16. Januar 2013

Willkommen zur Saison 2013!


Der Urlaub ist vorbei und ab Samstag wird wieder gegen den Ball getreten. Zeit auch für mich schon mal den Motor warm laufen zu lassen und mich auf die kommende Saison vorzubereiten. Der brasilianische Fußballkalender mutet für deutsche Fußballfans etwas seltsam an, denn er ist in zwei Semester geteilt. Vom 19.01. bis zum 19.05. werden die regionalen Staatsmeisterschaften stattfinden. In dieses erste Semester fallen auch der brasilianische Pokal und der kontinentale Copa Libertadores. Am 25.05. beginnt dann die brasilianische Meisterschaft, die im Dezember endet. Im zweiten Semester wird auch der Copa Sulamericana, das Pendant zu Europa League, ausgetragen.  
Am Samstag beginnen also die regionalen Staatsmeisterschaft, dass heisst in Rio, die Riomeisterschaft. Diese Wettbewerbe sind sehr kurios denn in ihnen müssen die großen etablierten Teams, wie Flamengo und Fluminense, gegen Dorfklubs antreten. Trotzdem haben diese Turniere ein hohes Ansehen in Brasilien. Jeder Bundesstaat hat seine eigene Meisterschaft und seinen eigenen Austragungsmodus, der oftmals – sagen wir – kreativ ist.
In Rio wurden zwei Gruppen mit je acht Teams gebildet. In einer ersten Phase spielen alle Mannschaften innerhalb einer Gruppe nur in einer Hinrunde gegeneinander. Die beiden Bestplatzierten der Gruppen tragen dann ein Halbfinale und schließlich ein Finale aus. Somit wird der Meister der ersten Phase ermittelt, der den Guanabara-Pokal erhält.
In der zweiten Phase spielt jedes Team der Gruppe A einmal gegen jedes Team der Gruppe B und jedes Team der Gruppe B gegen jedes der Gruppe A. Erneut gibt es nur eine Hinrunde. Die zwei Bestplazierten der beiden Gruppen ermitteln dann wieder in Halbfinale und Finale den Meister der zweiten Phase, der den Rio-Pokal erhält. Sollten die Sieger der ersten und der zweiten Phase zwei verschiedene Klubs sein, dann wird es am 12. und 19. Mai zum großen Finale um die Riomeisterschaft in Hin- und Rückspiel kommen.
Der Grund für diesen komplizierten Spielmodus ist, dass man versucht so viele große Derbies zwischen Flamengo, Fluminense, Vasco und Botafogo zu schaffen wie nur möglich. Man geht davon aus, dass diese vier Mannschaften immer auf den ersten Plätzen ihrer Gruppen abschließen und so kommt man im Idealfall auf 14 Derbys in vier Monaten!
Derbys haben sicherlich auch in Deutschland einen hohen Stellenwert und so ist dieses Bestreben nach einer Multiplizierung der Stadtklassiker auch für den deutschen Fußballfan nicht ganz unverständlich. Ich denke aber, dass an dieser Stelle der brasilianische Schriftsteller und Dramaturg Nelson Rodrigues (1912 - 1980) vorgestellt werden muss. Seine Themen sind Sex, Untreue und Fußball, damit ist er so eine Art brasilianischer Charles Bukowski. Nelson liebte als Schauplatz für seine Geschichten die Vororte in Rios Norden, in denen „noch aus Liebe Selbstmord begangen wird“. Genau in diesen Vororten liegen die Stadien Maracanã und Engenhão, aber auch viele kleine Vereine, wie Olaria, Bangu und Madureira.
Nelson verstand den Fußball immer als ein shakespeareanisches Drama. Als solches hat es verschiedene typische Figuren, die entweder durch die Klubs oder durch einzelne Spieler dargestellt werden. Mich hat das inspiriert, frei nach Nelson Rodrigues, die vier großen Klubs vorzustellen. Jedes gute Drama braucht einen Bösewicht und das ist in Rio der Verein Flamengo, der von allen drei anderen gehasst wird. Er verkörpert den Verrat, erkaufte Spiele, ungerechte Schiedsrichterentscheidungen und arrogantes Verhalten. In jeder Riomeisterschaft gilt es aufs Neue Flamengo niederzuringen.
Das wichtigste Stadtderby ist heutzutage das Spiel zwischen Vasco und Flamengo. Vasco wurde zu dem großen Rivalen Flamengos und verkörpert somit in unserem Drama den Helden und das uneingeschränkte Gute. Vasco konstruierte sein Image des Guten damit, dass er sich als den antirassistischen Klub ausgibt, da er der erste Verein war, der Spieler aus der Unterschicht zuließ. In der Sichtweise der Vasco-Fans wäre eine ethnisch gemischte Nationalmannschaft ohne ihren Klub nicht möglich. Man gibt sich also das Image eines volksnahen Verein, der von den etablierten benachteiligt wird.
Fluminense hingegen wird allgemein als der Verein der Oberschicht beschrieben und übernimmt so die Position der grauen Eminenz, ein weiser Mann, der über Gut und Böse schwebt. Im Vergleich zu Fluminense (der älteste Klub in Rio) sind alle anderen Vereine nur Kinder, die immer wieder einen väterlichen Rat brauchen. Fluminense ist eventuell bei Shakespeare vergleichbar mit dem Geist von Hamlets Vater.  
 Schließlich braucht jedes gute Drama noch eine Prise Humor und dafür ist der Hofnarr zuständig. Botafogo übernimmt diese Aufgabe. Der Verein ist berühmt dafür völlig irrationale Entscheidungen, aufgrund von abergläubischen Gesichtspunkten, zu fällen. In seinen Reihen waren mit Garrincha und Heleno de Freitas einige der außergewöhnlichsten Spieler der Fußballgeschichte, die die Fans immer zum Lachen brachten.
Ich würde sagen, dass Nelson Rodrigues wohl etwas unparteiischer war, aber im Großen und Ganzen mit meiner Charakterisierung übereinstimmen würde. Klar ist, dass Fans von Flamengo die Rollen von Bösewicht und Held vertauschen würden. Wir können uns also auf bis zu 14 Derbys freuen, in denen diese Figuren aufeinandertreffen und immer wieder aufs Neue ihre Kräfte messen.
Darüber hinaus gibt es aber auch die vielen kleinen Dorf- und Vorortklubs, die die Vorherrschaft der vier Großen herausfordern. Oftmals gelingt es ihnen sogar und es hat einfach eine poetische Schönheit, wenn man Flamengo in Bangu verlieren sieht. Immer wieder gelingt es einer Dorfmannschaften, sich vor einen der großen Klubs zu drängen, was sicherlich den Charme der Riomeisterschaft ausmacht. Ich werde deshalb ein besonderes Augenmerk auf die kleinen Klubs richten und ihre Spiele besuchen.